Ich würde so gerne mal ehrlich mit dir reden. Und ich meine nicht das „Ehrlich“, dass wir so gängig benutzen, wenn wir uns sagen, dass wir immer ehrlich zueinander sein werden, dass wir selbst mit uns und mit anderen so ehrlich sind, dass uns Ehrlichkeit so wichtig ist. Ich meine die Ehrlichkeit, die uns zwingt uns selbstkritisch in den Spiegel zu schauen, die Ehrlichkeit die weh tut, weil sie nicht immer schön ist. Zuerst. Aber dann wenn die Worte ihre Freiheit gefunden haben uns mitnehmen in ein Jetzt, dass uns erlaubt und weiterzuentwickeln, uns erlaubt zu heilen, uns erlaubt vieles hinter uns zu lassen und endlich, ja endlich nach vorne zu gehen.
Doch wir sitzen und schweigen, ignorieren die Stimmen, nähren die inneren Zweifel und lächeln uns an. Denn wer weiß, vielleicht haben sie ja alle nicht recht. Vielleicht ist es ja doch ganz anders. Und vielleicht, wenn wir noch ein wenig weiter zuwarten, verschwinden die Wolken, die Schatten über uns.
Verschwinden Gedanken, wenn wir ihnen nicht über Buchstaben, über Worte Ausdruck verleihen? Werden Dinge nicht Realität, wenn wir sie aussparen, wenn wir sie lange genug ignorieren? Wir lernen, dass es leichter wird, wenn wir über unsere Gedanken sprechen, über die Dinge die ins uns vorgehen aber ist das wirklich so? Sie sagen aber auch: „Hättest du geschwiegen, hätte man dich für einen Weisen gehalten“. Ist also weise still zu sein?
Ich schaue Dir in die Augen und versuche herauszufinden, was du denkst, was du fühlst. Bin ich alleine mit meinen Gedanken, mit meinen Gefühlen? Geht’s nur mir so? Sitzen wir in einem Boot oder rudern wir bereits seit längerem in unterschiedliche Richtungen? Es fühlt sich so an, als wären es zwei Boote, nicht eines. Jeder hat(te) bis dato sein Lieblingsboot. Der eine ein Schnellboot, vor lauter Angst etwas zu versäumen, voller Ungeduld das Leben zu leben, alles einzuatmen, dabei aber auch so vieles verpassen. Und der andere sitzt in einem Boot, dass sich gar nicht anfühlt wie seines, dass überall auseinander zu klaffen scheint, bemüht alle Löcher und Lecks zu stopfen, die da sind. Und es sind viele. Aber weil er so beschäftigt ist damit das Boot über Wasser zu halten, sieht er kaum, was da draußen ist.
Wir alle suchen Liebe und Heilung unserer Altlasten oder Wunden. Aber kann das alles überhaupt passieren, wenn wir nicht an uns arbeiten? Nicht die Verantwortung übernehmen für unser Tun aber auch Nicht-Tun? Sei der Kapitän deines Bootes, zeige Verantwortung, überlege gut, wohin du segelst, wie viel Kraft du aufwendest auf der Reise, ob du jedes Mal gegen den Sturm reisen musst oder dir auch die Winde zu Nutze machen kannst. Und – überlege gründlich, wen und wie lange du jemanden auf deine Reise mitnimmst. Kann Heilung also passieren, wenn wir diese Verantwortung für uns, für unser sein, für unser Leben, für unser TUN nicht uneingeschränkt übernehmen und ehrlich sind zu uns und zu den Menschen um uns rum?
Wenn wir in Beziehung gehen, uns wirklich einlassen auf einen Menschen, heißt das sich so zu zeigen wie wir wirklich sind. Ohne Hose, ohne Maske, ohne Filter, ohne rosarote Brille. Und ist es nicht genau dafür nötig, ehrlich zu sein? Sich selbst vorweg zu akzeptieren so wie ich nun mal bin, all meine Narben, all meine Wunden. Frieden zu schließen mit sich selbst, mit den Anteilen die ich vielleicht nicht so toll finde oder gefunden habe. Wie soll ein anderer uns ebenso offen und uneingeschränkt begegnen, wenn wir bereits da nicht ehrlich sind zu uns?
Wir müssen ja sagen zu all den wunden Punkten, zu all den unschönen Ecken, denn sie sind Teil von uns, ein Teil unserer Geschichte und keine Geschichte, nicht einmal ein Märchen besteht nur aus lichten Momenten. Und letztlich sind es na nicht die lichten Momente die uns definieren, die uns prägen, die uns formen. Nein, es sind die Not, die Verzweiflung, der Kummer und Schmerz. Ohne Licht, kein Schatten. Ohne Liebe, kein Hass. Ohne die Konflikte auch kein Miteinander, oder keine (Ver-)Bindung. Ohne Momente der Distanz ist auch keine Nähe möglich. Diese Gegensätze sind wichtig und nötig, um das Leben in vollen Zügen zu LEBEN. Klar, niemand meldet sich an und sagt: „Ja, hier, ich, bitte lass mich Schmerz empfinden!“ Niemand mag Konflikte, aber sie erzählen unsere Not, unsere Hilflosigkeit, sie erzählen wer wir sind.
Wer also sind wir am Ende des Tages ohne die Ehrlichkeit zu sagen wer wir sind, ohne den kritischen Blick in den Spiegel zu werfen und ohne das was wir sehen, ohne das was wir (zu-)hören was wir sagen, was wir an Feedback erhalten? Wer sind wir, wenn wir Emotionen, nur, weil sie eventuell weniger „schön“ sind ausschließen? Wer sind wir, wenn wir unsere Augen verschließen vor uns, vor unseren Taten? Wenn wir die Ohren zu halten, weil es eventuell unangenehm ist, was wir hören (könnten)? Wer sind wir dann und was macht das aus uns?
Also schau ich dich wieder an, denn ich sehe nicht nur deine Narben, sondern auch meine. Wenn ich sehe, wie du dich quälst und ärgerst, sehe ich ebenso mich. Wenn ich deine Unsicherheit sehe, macht es mich ängstlich. Wenn ich höre, wie du deine Sätze formulierst, macht es mich stumm. Wenn ich erlebe, dass du mich nicht in den Arm nehmen kannst, fühle ich mich leer. Du bist mein Spiegel, meine Unsicherheit, meine Angst, meine Herausforderung, meine Not und meine Ohnmacht. Aber du, ja du, bist auch meine Chance auf Heilung und auch Ehrlichkeit. Die Frage bleibt, wollen wir in den Spiegel schauen oder uns abwenden?