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Mietze in Not

Ich denke in letzter Zeit oft darüber nach, wann man Menschen oder Situationen sich selbst überlässt und wann man endgültig loslässt. Es gibt ja dazu gefühlte 1001 weise Sprüche wie z.B. „Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht!“ oder „man muss vorher mit beiden Händen loslassen, bevor man etwas neues greifen kann!“, aber ehrlich, am Ende des Tages sind es doch nur Sprüche, die nicht wirklich helfen, oder?

Klar, wir alle wollen grundsätzlich das Beste für uns und die Menschen die wir lieben. Aber irgendwie ist das schon eine besondere Herausforderung, die Dinge die wir selbst wollen und jene, die sich andere von uns wünschen oder brauchen, unter einen Hut zu bringen. Und was hat dann Vorrang? Wir? Die anderen? Abwechselnd? Und was ist, wenn es gar nicht unter ein und denselben Hut zu bringen ist? Wer ist wichtiger? Die Frage des Tages lautet also: „Wie lange hält man – haltet ihr – an Menschen fest, die euch in ihrem Verhalten nicht oder nicht mehr gut tun?“ Stopp –  bevor ihr jetzt  sehr schnell sagt: „Na, gar nicht!“ oder „sicher nicht lange!“. Was ist, wenn ihr diesen Menschen wirklich liebt und/oder euch verantwortlich fühlt für ihn oder sie? Wäre die Antwort dann immer noch so einfach? So schnell? Wie lange würdet ihr festhalten an der Beziehung? Der (Ver-)Bindung? Vor allem, wenn ihr  seht, dass dieser Mensch, der Euch so wichtig ist, selbst (noch) nicht glücklich sein kann oder will oder eben noch nicht. Wie lange bleibt ihr bei diesem Menschen, seit da, helft, unterstützt? Wie weit würdet ihr gehen? Und wann ist Schluss?

Ich habe so eine Situation schon sehr lange in meinem Leben, schon sehr lange. Und da ist dieses Bild das ich damit verbinde: Ein Tiger, der in einem Käfig sitzt. Er leidet, leidet Höllenqualen, er hat schon fast aufgegeben, will nicht mehr leben, sieht keinen Sinn darin, will nicht glücklich sein, er hat es verlernt oder war es nie. Und wie er da so in seinem Käfig sitzt, fühle ich mit ihm, er tut mir leid. Ich muss ihn retten. Das muss funktionieren. Und, ich kann nichts anderes sagen, ich fühle mich verantwortlich für sein Glück oder Unglück. So sehr, dass ich vor Jahren beschlossen habe, nicht nur täglich am Käfig vorbei zu schauen u ihm gut zu zureden, sondern, damit ich wirklich für ihn da sein kann, habe ich mich zu ihm in den Käfig gesetzt. Ich habe mich hineingesetzt und die Käfigtüre hinter mir geschlossen. Und dort pflege u hege ich ihn, tagtäglich. Aber dieser Tiger ist nicht, wie man vielleicht annehmen möchte, glücklich oder glücklicher darüber, nein, ganz im Gegenteil, er beißt mich immer wieder und schlägt mit seinen riesen Pranken immer in meine Richtung. Ja, klar er hat auch bessere oder gute Tage, aber das alles bewegt ihn nicht dazu, den Wunsch zu entwickeln aus dem Käfig zu gehen, er bleibt und leidet vor den anderen, vielleicht auch für die anderen, die sind ja schließlich Schuld an seinem Leid. Und egal was ich tue, er wird nicht glücklicher, will am Leben nicht teilhaben, egal wie sehr ich es ihm wünschen würde und was ich dafür tun würde oder ohnehin bereits opfere. Und so vergehen die Jahre, die er leidet und ich ihm sein Glück wünsche. Denn eines ist klar, wenn er es schafft, dann schaffe ich es auch, dann ist meine Aufgabe getan, ich war erfolgreich, das Karma besiegt, der Fluch gebrochen. Dann, ja dann bin ich auch frei.

Und während ich in diesem Käfig sitze und durch die Gitterstäbe schaue, sehe und sehne ich mich nach der Welt da draußen. Ich sehe die Menschen, die das Leben haben, das sie sich wünschen, das auch ich mir wünschen würde, hätte ich da diese Aufgabe nicht. Manchmal lache ich mit ihnen, freue mich über ihren Erfolg und bin euphorisch, wenn ich an meine Zeit, nach dem Tiger, nach dem Käfig denke. Wenn ich draußen bin, meine eigenen Ziele leben darf, meine Wünsche sich erfüllen. Und manches Mal, bin ich traurig und ohnmächtig, weil ich das Gefühl habe, dass ich irgendwann der Tiger sein werde, „viel fehlt nicht mehr“, denke ich dann. Ich werde der Tiger sein und meine Wünsche, Ziele, Ideen und Visionen rücken so weit weg, dass sie schier unerreichbar scheinen. „Ist das wirklich mein Leben? Meine Aufgabe? Geht es darum? Soll ich für den Tiger im Käfig bleiben, mein Leben hinter Gittern fristen? Mit ihm sterben oder anstelle des Tigers?

Wie lange bleibe ich und von welcher Seite betrachte ich die Welt, den Tiger? Im Käfig oder außerhalb? Ich glaube, das muss jeder für sich entscheiden, allerdings steht mein Entschluss fest. Ich gehe, gehe raus, raus aus dem Käfig und rein in die Welt. Und der Tiger? Nun, dass ich ihm nicht helfen kann, wir uns nicht helfen können steht fest, dass weiß ich nach all den Jahren. Aber vielleicht geht es ja auch andersrum … wenn ich es schaffe, dann schafft es der Tiger auch. Und ich, ich schaffe es allemal. Ich kann das. Mein Lebenshunger ist groß und meine Stärke konnte ich all die Jahre gemeinsam mit dem Tiger entwickeln, ich habe alle Fähigkeiten aufzustehen und zu gehen und draußen glücklich zu werden und wisst ihr was komisch ist, was ich all die Jahre nicht bemerkt habe … der Tiger auch. Ich gehe, ich schließe die Türe nicht, ich lehne sie an, aber ich gehe.