Es war einmal vor sehr langer Zeit ein kleines Mädchen namens Lilith. Lilith lebte in einer Welt, in der magische Wesen und die Menschen gemeinsam und zumeist friedvoll nebeneinander existierten. Lilith war ein sehr süßes Mädchen, nicht älter als 3 Jahre mit langen blonden Locken, blauen Augen die mehr strahlen konnten, als jeder Stern am Himmel und einem Herzen aus purem Gold.
Sie war ein sehr reines Wesen, das nur durch ihren bloßen Blick, die Menschen mit purer Begeisterung entzünden konnte. Sie war eine Lichtträgerin. Eine von wenigen. Sie hatte die Gabe, alle Wesen entzünden zu können mit purer Freude, purer Begeisterung, purem Lachen, einfach ihnen wieder pures Leben einzuhauchen. Die kleine Magierin hatte das Talent, die Herzen zu füllen mit purer Emotion. Lilith war sehr stolz auf ihre angeborene Gabe. Sie verglich es immer mit dem Lichterfest, das sie aus der Schule kannte. Wer immer an ihr vorbei ging, wurde wieder entzündet mit einer Fülle von freudvollen Gefühlen, während sie einfach nur da stand und strahlte.
Und obgleich, die Aufgabe nicht immer einfach war, liebte sie es. Und es war ungewöhnlich, dass genau ihr diese Aufgabe zu Teil wurde. Denn Liliths Vater war ein Mensch und nur ihre Mutter ein magisches Wesen, die aber ihre Aufgaben als mystisches Wesen nicht mehr leben wollte, seit Liliths Vater sie verließ. Das alles grämte sie so sehr, dass sie ihr Herz verschloss und damit verschwand auch ihre Gabe. Lilith aber wurde mit all dieser Magie geboren und diesem puren Glauben an das Gute und, eben mit ihrer Gabe. Zu ihrem Vater hatte sie keinen Kontakt mehr, der wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben und noch weniger mit ihrer Gabe, das hielt er ohnehin für Unfug. Auch ihre Mutter war keine große Unterstützung, obwohl sie ja noch wissen müsste, wie es sich anfühlt, mit einer derartigen Gabe zu leben. Aber ihr Herz war lange verschlossen, für ihre Gaben und auch für Lilith selbst. Sicherlich gab sie der kleinen süßen Maus immer genügend zu essen, Gewand zum kleiden und bemühte sich auch um eine angemessene Ausbildung, mehr allerdings nicht. Lilith liebte ihre Mutter, auch wenn sie die tiefe Trauer und die Wut ihrer Mutter sehr betroffen machte. Doch so sehr sich Lilith auch mühte ihre Mutter wieder zu entzünden, ihre Mutter blieb hart und ihr Herz verschlossen. Niemand verstand so richtig, woher Lilith all diese Gaben hatte und dieses riesen Herz. Warum sie andere auf diese ganz besondere Art und Weise so lieben konnte, obwohl sie all diese Gefühle doch selbst nie erlebt hatte. Aber da war sie, in dieser Welt mit dieser Aufgabe und sie war entschlossen alles zu tun, um diese Welt, in der sie lebte erstrahlen zu lassen.
Doch so sehr Lilith selbst und ihre Gabe in ihrem Leuchten zusehends weiter erwachte, wurde Liliths Mutter mehr und mehr herzlos und verankert in ihrer Wut. So sehr, dass sie gar nicht mehr das Haus verlassen wollte, sie war wahrlich verwurzelt in ihrem Leid. Und Lilith, die sich immer mehr die Schuld daran gab, weil sie es seit Jahren nicht schaffte, ihr die Liebe zum Leben wieder zu ermöglichen, saß ebenso mehr und mehr mit ihr zu Hause und kümmerte sich ausschließlich nur mehr um ihre Mutter. Bald saß sie tagein und tagaus neben ihr und redete ihr immerzu liebevoll zu, doch ihre Mutter blieb starr. Und je mehr sie sich um ihre Mutter kümmerte, desto mehr vergaß sie ihre Aufgabe. Aber Lilith vergaß nicht nur vor lauter Fürsorge für ihre Mutter ihre Gabe, nein, sie sah auch ihr eigenes Strahlen nicht mehr, ihre Schuldgefühle ließen sie ihr eigenes Strahlen nicht mehr erkennen. Alles was sie sah, war der Schmerz, das tiefe Unglück ihrer Mutter. Das Haus in dem sie wohnten, die Möbel, alles verwandelte sich langsam und verfiel den Emotionen der Mutter.
Die Jahre vergingen und genauso wie ein Baum der mit der Erde verwurzelt war, so war auch Liliths Mutter mittlerweile bewegungslos, starr, festgewachsenen. Lilith war noch immer bei ihr. Sie wachte noch immer über ihre Mutter und sie tat immer alles um ihrer Mutter Liebe zu vermitteln. Doch immer wenn Lilith dachte, jetzt bewegt sich etwas, jetzt löst sich ihre Mutter aus dieser Starre, wurde sie gleichsam von dem Gegenteil überzeugt und wieder enttäuscht. Lilith war mittlerweile 18 Jahre alt geworden und ähnlich wie ihre Mutter verlor sie langsam die Hoffnung, den Glauben daran, sie könnte irgendetwas an der Situation ihrer Mutter ändern, sie könnte es eines Tages schaffen sie ins Leben, in die Lebendigkeit zurückzuholen. An manchen Tagen fing sie sogar an zu glauben, dass ihre Mutter das genau so wollte, traurig und arm sein. Und das machte Lilith richtig wütend. Aber dennoch schaffte sie es nicht loszulassen und blieb, weil die Schuldgefühle gegenüber ihrer Mutter stärker waren, als ihre eigene Wut.
Und dann, eines Nachts hatte Lilith diesen Alptraum. Sie träumte, dass die Welt rund um sie kaum noch existierte, die Dunkelheit zog übers Land und alle Freude, alles Lachen wich beiseite. Die Wesen hatten ihrerseits vergessen, was das schöne Leben alles zu bieten hat. Alles worum sie sich noch kümmerten, waren die Probleme, all die Verantwortung, die Entbehrungen, alles war nicht möglich war, der Schmerz und die Wut die sie täglich begleiteten. Alles war weg. Sie sah, dass sie in einer Ruine saß, dass rundum alles alt und kaputt und über die Jahre hinweg vermodert war. Es war so angsteinflößend dunkel. Kein Geräusch war zu hören, nicht einmal ein Vogelzwitschern. „Was war wohl geschehen? Was war passiert?“, fragte sich die kleine Lilith immer wieder. Sie rüttelte förmlich an ihrer Mutter und schrie: „Was ist passiert? Wo sind wir? Wo sind die anderen?“ Aber ihre Mutter sprach wie immer nicht mit ihr, antwortete nicht, blieb still. Lilith rannten die Tränen wie Bäche von den Wangen und kannten kein Halten mehr und sie schrie ihre Mutter noch lauter an: „Mutter, wir müssen hier weg! Wir müssen gehen! Bitte! Lass uns gehen!“ Doch auch dieses Mal lies ihre Mutter ihr flehen und betteln unbeachtet und emotionslos verstreichen. Lilith schrie, bettelte und zog an ihrer Mutter, doch diese bewegte sich nicht. Es war fast als würde sie ihr schreien und rufen gar nicht hören. „Mutter, wir müssen hier weg, oh, bitte, bitte lass uns gehen!“ Lilith spürte instinktiv, dass sie weg mussten, raus aus diesem Haus, aus diesem Waldstück, schnell. Sie rannte nervös vor ihrer Mutter auf und ab, während sie immer und immer wieder schrie: „Mutter, bitte. Lass uns gehen!“ Aber diese schien sie nicht zu hören. Als ob eine dicke Glaswand zwischen ihnen beiden stand und Lilith konnte schreien, toben und gegen die Glaswand schellen was sie wollte, es drang kein Geräusch, kein Ton durch. Sie hatte keine Chance gehört zu werden. „Mutter, warum hörst du mich nicht? Warum ignorierst du mich? Was habe ich dir getan? Warum hörst du mich nicht? Was ist los?“, brach sie weinend vor ihrer Mutter nieder.
Als Lilith schlagartig wieder wach wurde, war ihr Gesicht noch ganz feucht von den vielen vergossenen Tränen und sie fühlte sich schwach und leer. Sie schaute sich um und sah seit Jahren erstmals wieder die Wirklichkeit, ihre Wirklichkeit und nicht die ihrer Mutter. Sie sah, dass der nähere Bereich rund um ihre Mutter in tiefer Dunkelheit lag, aber dass es auch einen Bereich darüber hinaus gab, eine Welt da draußen, außerhalb ihrer Mutter. Sie begann zu verstehen, dass sie all die Jahre so konzentriert war auf ihre Mutter, deren Probleme, Ängste und ihre Wut, dass sie vergessen und verlernt hatte das Schöne in der Welt zu sehen, das Leben zu feiern, wie früher. Doch es war ungebrochen da und klopfte förmlich an die Türe, an ihre Herzenstüre. Und Lilith wusste auf einmal ganz klar, dass sie diese Welt da draußen wieder erleben möchte, sie erinnerte sich an ihre Bestimmung und daran wie viel pure Lebensfreude sie einst vermittelt hatte, an das Glänzen in den Augen der Menschen die sie gesehen, ja erkannt hatte. Sie spürte ganz tief in ihrem Herzen, dass es da draußen so viel mehr gab, auch für sie, zu erleben, zu erreichen. Lilith fasste allen Mut zusammen und trat vor ihre Mutter: „Mutter, bitte, lass uns gehen, draußen ist es strahlend schön, das pure Leben, es ist hell und freundlich. Alle sind glücklich und guten Mutes. Bitte, lass uns doch gehen! Bitte, es ist Zeit, lass die Sorgen und deine Wut hinter dir und lass uns wieder glücklich sein.“ Und zum ersten Mal seit gefühlten Jahrzehnten schaute ihre Mutter auf und sagte: „Du willst mich also verlassen? Die anderen da draußen sind dir wohl wichtiger? So viele Jahre war ich für dich da und jetzt lässt du mich alleine? Ich? Ich will nicht gehen, ich kann nicht, nicht mehr, dieses Leben ist sichtlich mir bestimmt und nichts darüber hinaus!“ Als Lilith das hörte, war sie ihren kurz vergessenen Schuldgefühlen wieder näher als sonst und setzte sich still wieder neben ihre Mutter. Sie senkte den Kopf und sagte: „Ich bleibe bei dir Mutter.“
Die darauf folgenden Nächte, träumte Lilith immer wieder den gleichen Traum. Der gleiche Alptraum immer und immer wieder. Jede Nacht weinte sie und schrie sie ihre Mutter an, flehte sie an, mit ihr zu kommen und jede Nacht verhallte ihr Flehen in der dunklen Nacht. Lilith wurde langsam klar, das es nur zwei Wege gab. Entweder sie blieb hier bei ihrer Mutter, ihrem Unglück, ihrer Wut und damit in ihrer dunklen Welt oder aber, sie ging fort und lebte, ihr Leben, ihre Berufung und ihr Glück.
So vergingen die Tage und Nächte. Ein bis zwei Mal dachte sie, dass ihre Mutter nach ihr rief und mit ihr sprechen würde, doch das war nur ein Wunsch. Dann, eines frühen Morgens, als wäre es nie anders gewesen, stand Lilith auf und ging. Endgültig ohne wieder zu kehren. Sie konnte gar nicht mehr anders. Sie spürte wahrlich wie das Leben ihr zurief und ihr goldenes Herz förmlich aus der Brust sprang vor Freude. Sie hatte es tatsächlich geschafft, sie nicht nur überlebt, nein, sie hatte sich auch immer ihre pure Lebendigkeit, ihre pure Herzlichkeit bewahrt, tief in ihr drinnen. Wie ein gut vergrabenen Schatz, den man bewahren muss. Sie war frei. Und sie verstand, das es Wesen gab, die nicht entzündet werden wollten, die nicht bereit waren und das es nicht an ihr war, das zu ändern, wie ihre Mutter. Sie hatte ihre Schuldgefühle begraben und lebte nun immer in vollen Zügen, feierte das Leben wann immer sie konnte und brachte Licht und Strahlen. Das war ihre Aufgabe, sie war ja schließlich eine Lichtträgerin.